Von Borschtsch, Bürokratie und Behördengängen / Eine Ukrainische Gastfamilie in Leichlingen

von | 18 Jun 2022 | Allgemein

Ein Interview mit Doreen und Stefan aus Leichlingen.

Thomas Grzyb hat die Beiden getroffen um einen kleinen Einblick zu erhalten.

Von Borschtsch, Bürokratie und Behördengängen. Eine ukrainische Gastfamilie wird in Leichlingen aufgenommen.

 

Das Interview vom 13.06.2022:

Hallo Ihr Beiden. Schön, dass Ihr zu einem Interview bereit seid und Eure Erfahrungen mit der Aufnahme einer ukrainischen Gastfamilie mit uns teilt. Vielleicht könnt Ihr Euch kurz vorstellen.

Hallo, wir sind Doreen und Stefan und sind 27 und 32 Jahre alt. Wir haben beide im schönen Köln studiert und sind nach dem Studium nach Leichlingen gezogen. Hier wohnen wir jetzt seit 2 Jahren.

Was war Euer Hintergrund eine geflüchtete Familie bei Euch aufzunehmen.

Ganz ehrlich: es war eine super spontane Entscheidung: Da wir noch ein Arbeitszimmer haben, was wir kurzerhand in ein Schlafzimmer mit Schlafsofa umfunktionieren konnten, haben wir uns bei der Stadt Leichlingen auf eine Liste setzen lassen. Den Aufruf haben wir auf der Seite der Stadt Leichlingen gefunden, nachdem wir uns etwas durch die sozialen Netzwerke gesucht hatten. Das war ein Samstagmittag. Wenige Stunden später rief uns jemand von der Stadt zurück und wollte weitere Infos zu unserer Unterbringungsmöglichkeit erfahren, z.B. ob es ein zweites Badezimmer gibt und wie viel Quadratmeter zur Verfügung stehen würden. Wir einigten uns darauf, dass der Platz für 1 Person + 1 Kind ausreichend wäre.

Wie war die erste Zusammenkunft mit der Familie. Erzählt doch mal wie der Ablauf war und wen habt Ihr aufgenommen?

Stefan: Ich wurde Montag von einem Mitarbeiter der Stadt angerufen, ob unser Angebot noch steht und dass eine Mutter mit zwei Jungs (12 und 17) noch eine Bleibe sucht. Da haben wir dann zugesagt. Am Mittwochmittag kam die Familie in Leichlingen an. Da ich im Home-Office gearbeitet habe, konnte ich sie auch direkt abholen. Zuhause angekommen war der 1. Wunsch: eine Dusche. Dann habe ich sie erst einmal etwas zur Ruhe kommen lassen.

Wie waren die ersten Tage mit der Familie bei Euch zuhause? Wie habt Ihr alles organisiert und wie kommuniziert Ihr mit der Familie? Sprecht Ihr ukrainisch?

Chaotisch. Aufregend. Und vorallem lang: Nach der Arbeit gab es tausende Dinge zu organisieren und sich um Informationen zu bemühen. Die Familie brauchte zuallererst einmal Kleidung, da sie nur das nötigste dabei hatten. Gleichzeitig waren viele administrative Aufgaben zu erledigen (Anmeldung beim Sozialamt, Registrierung bei der Ausländerbehörde, usw). Und dann gab es ja noch das größte Thema von allen: Den Krieg in ihrer Heimat. Und wir balancierten jeden Tag auf dem schmalen Grad von „nachfragen, Interesse zeigen und Mitgefühl ausdrücken“ und „keine persönlichen Grenzen überschreiten wollen, weil wir ja im Grunde Fremde waren“. Kommuniziert wurde über Sprach Apps, wie „google translate“ oder „slatch“, was überraschend gut funktionierte, zumindest für das Nötigste. Tiefgründige Gedanken und Gefühle kann man mit bestem Willen nicht über ein solches Sprachtool kommunizieren, sodass wir viele Bilder aus Ihrer Region/ihren sozialen Medien gezeigt bekommen haben. Mitgefühl ausdrücken geht also auch ganz ohne Sprache.

Nach der Ankunft gab es bestimmt viel zu tun. Ihr habt einen Aufruf zu Spenden von Kleidung sowie elektronische Geräte bei Facebook in der Leichlinger Gruppe eingestellt. Wie war dort das Feedback der Leichlinger?

Überragend! Wir sind überwältigt von der Hilfe, dem Zuspruch und den Spenden, die wir bekommen haben. Es fing an mit einem Post um 22.00 Uhr: Wir suchen einen Fußball für unsere zwei Gast Jungs. Und am nächsten Morgen hatten sich etliche Menschen gemeldet, die einen spenden wollten. Und einer von ihnen hat den Fußball morgens vor der Arbeit noch vorbeigebracht. Und dann überrollte uns eine Welle der Hilfsbereitschaft: Eine liebe Mama, die selbst Söhne in dem Alter unserer Jungs hat, hat tütenweise Klamotten vorbeigebracht. Eine weitere Frau brachte einen ganzen Koffer mit Sachen für unsere Gastmutter, Schuhe, Sportkleidung, Fußballtrainingsklamotten. Es waren so viele Spenden, sodass wir Angebote ausschlagen mussten. Wir wussten aber, dass es sicherlich noch weitere Familien geben wird, die bald Sachen brauchten, sodass wir die hilfsbereiten Menschen sicherlich nur auf kurze Dauer vertrösten mussten.

Ein bestimmt großer und umfangreicher Punkt war bestimmt das Bürokratische. Was habt Ihr denn so alles bei den Behörden in Bewegung setzen müssen?

Das wohl wichtiges Learning unsererseits war: Die Mühlen der Bürokratie in Deutschland mahlen langsam. Sehr langsam. Die Anmeldung beim Sozialamt war der erste Schritt. Nach endloser Wartezeit vor dem Rathaus hatten wir unsere Gastmutter und ihre zwei Kinder in Leichlingen registriert und bei uns gemeldet. Es wurde direkt ein Scheck mit Sozialhilfe ausgehändigt, den wir auch direkt bei der Sparkasse einlösen konnten. Außerdem durfte die Familie direkt 2x pro Woche zur Tafel gehen. Das war eine große Bürde, die unserer Gastmutter von den Schultern genommen wurde: Denn seit dem 1. Aufeinandertreffen, kam es immer wieder zur Sprache, dass sie arbeiten möchte und Geld für Ihre Familie verdienen möchte. Eine Anmeldung in Bergisch Gladbach bei der Ausländerbehörde sollte der nächste Schritt sein. Einen Termin zu organisieren war sehr chaotisch, denn die Stadt Leichlingen gab uns andere Infos als die Ausländerbehörde in Bergisch Gladbach. Schlussendlich haben wir uns mit einer weiteren Gastfamilie zusammengetan und sind selbst auf gut Glück nach Bergisch Gladbach gefahren. Nach persönlicher Vorsprache haben wir einen Termin bekommen. Bis es aber schlussendlich dazu kam vergingen Wochen, denn wir wollten uns an die Anweisungen der Stadt Leichlingen halten. Aktueller Stand ist: Unsere Familie wird inzwischen durchs Jobcenter betreut, sie sind offiziell als Geflüchtete registriert und seit Anfang Juni in einer eigenen Wohnung.

Gehen die beiden Kinder in die Schule oder ggf. einem Beruf nach?

Viele Leichlinger konnten Ihre Gastkinder einfach gemeinsam mit eigenen Kindern in die Schulen geben. Wir haben einen Termin im kommunalen Integrationszentrum in Burscheid wahrgenommen. Das war eine sehr positive Erfahrung. Der Gastfamilie wurde das Schulsystem in Deutschland erklärt und es wurden Schulen für beide Jungs rausgesucht. Ich glaube der Schulstart war und ist für beide Jugendliche holprig und turbulent. Die Arbeitssuche für unsere Gastmutter gestaltet sich schwierig, da es natürlich die Sprachbarriere gibt. Zusätzlich ist erst nach erfolgreicher Registrierung eine Arbeitserlaubnis erteilt worden. Das ist erst ab Juni der Fall. Aktuell warten wir auf Angebote des Jobcenters.

Wie ist das Feedback der Familie Euch gegenüber? Wie verkraftet die Familie die schrecklichen Dinge des Krieges?

Sie sind natürlich sehr sehr dankbar. Aber der Wunsch nach ihrem alten Leben ist natürlich immer präsent und völlig klar. Das respektieren wir in jeder Hinsicht.

Wie sah euer gemeinsamer Alltag aus?

Grundsätzlich hatten wir beide ja immer nur abends „Zeit“. Vieles musste also in diesen Stunden organisiert werden, da blieb erst einmal wenig Zeit zum „gemeinsamen Alltag“. Unsere Jungs haben tagsüber unsere Räder viel genutzt und sind (zum Glück ohne schweren Schiffsbruch zu erleiden) durch Leichlingen gedüst. Wir haben uns meist gut aufgeteilt: wenn wir von der Arbeit nach Hause kamen, hatte unsere Gastmutter schon etwas gekocht. Meistens Borschtsch (Rote-Beete-Suppe) So hatten wir Zeit für alles Organisatorische und die ein oder andere Runde „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Und wir sagen’s mal so: an Ehrgeiz mangelte es dabei niemandem von uns.

Nach ein paar Wochen habt Ihr einen erneuten Aufruf bei Facebook gestartet. Diesmal wurden Möbel für die Einrichtung einer Wohnung angefragt. Wie seid Ihr an die Wohnung gekommen? Erzählt mal ein wenig über den Ablauf.

Die Situation bei uns zuhause in einem 11qm Arbeitszimmer zu dritt war eine Lösung auf Zeit. Leider haben wir uns von der Stadt Leichlingen sehr alleine gelassen gefühlt, eine Perspektive für unsere Familie zu entwickeln, was sicherlich an der großen Anzahl Geflüchteter lag. Schlussendlich haben wir in Eigeninitiative eine Wohnung für sie gefunden und diese mit Spenden renoviert und eingerichtet: In einer anstrengenden Wochenend-Aktion wurde gestrichen, Boden gekauft und verlegt, eine Küche eingerichtet, Betten und Schränke organsiert. Hier überwältigte uns nochmals die Hilfsbereitschaft der Leichlinger, mit denen wir die Wohnung komplett einrichten konnten. Einfach großartig.

Vorab holten wir uns natürlich das Schriftliche „Go“ der Stadt Leichlingen, dass eine Wohnung finanziert wird. Bis Juni allerdings ging es nicht richtig voran mit den Unterstützungsleistungen. Aktuell ist vom Jobcenter eine Finanzierung genehmigt und wir warten auf die erste Zahlung auf die neu eingerichteten Konten. Seit Juni wohnt unsere Gastfamilie in der neuen Wohnung.

Kann die Familie nun in Ihrer Wohnung selbständig das Leben führen? Oder wird von Euch noch weitere Hilfe benötigt?

Bei einigen Dingen helfen wir natürlich, sei es die Einrichtung eines Kontos oder Abstimmung mit der Schule bei Schulausflügen oder Klassenfahrten. Ein selbstständiges Leben führen sie hier sowie in der Ukraine.

Gab es Unterstützung der Stadt Leichlingen zum Thema ukrainischen Flüchtlingen? Werden z.B. Sprachkurse angeboten?

Ein ehrenamtlich organisierter Sprachkurs der Leichlinger hat unserer Gastfamilie erste Wörter vermitteln können. Aktuell gibt es, unseres Wissens nach, kein Angebot für einen offiziellen Sprachkurs in Leichlingen.

Habt Ihr weitere Planungen zur Hilfe und Aufnahme einer weiteren Familie geplant?

Eindeutig nein. Denn wir betreuen unsere Gastfamilie weiter. Mit dem Auszug aus unserer Wohnung hört unsere Hilfe nicht auf. Leider ist es aktuell nicht so, dass jede Gastfamilie automatisch einen Sozialarbeiter zur Seite gestellt bekommt, der sich um die weiteren Belange kümmert (wie es in unserer Wunschvorstellung wäre). Außerdem wurden während der ganzen Zeit unsere Kapazitäten ständig überschritten: Was man sich immer wieder klarmachen muss: Wir sind Wohnungsgeber und Wohnungsgeberin. Sich um sämtliche Behördengänge einer geflüchteten Familie zu kümmern nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Ohne die Hilfe meiner Eltern, die Vormittags-Termine in den Ämtern übernommen haben, und die gute Zusammenarbeit und den Austausch von Gastgeberfamilien untereinander, wäre das alles nicht möglich gewesen.

Wir als Wupperbogen e.V. haben eine Arbeitsgruppe gestartet. Wir wollen auch den ukrainischen Flüchtlingen helfen. Könnt Ihr uns dafür ein paar Tipps geben?

Was super hilfreich wäre, wäre die Betreuung einer Gastfamilie unabhängig der Wohnungsgeber*Innen. Also das Wahrnehmen von Behördenterminen und eine Art Checkliste für jede Gastfamilie, was zu organisieren ist und wo man sich melden muss, welche Unterlagen benötigt werden und wie man an Termine kommt. Je nachdem wo die Geflüchteten wohnen, wären auch Fahrten zur Tafel unheimlich hilfreich. Außerdem stehen jetzt in wenigen Tagen die ersten großen Sommerferien auf dem Plan. Es wäre ganz toll, eine Art Ferienfreizeit zu organisieren.

So ich bedanke mich für die vielen Informationen und Eindrücke. Es hat mich sehr gefreut einmal einen tieferen Einblick erhalten zu haben. Möchtet Ihr noch weitere Geschichten, Emotionen oder Eindrücke mit uns teilen?

Der damalige Aufruf auf Facebook Leichlingen. Hier wurden Spenden zur Renovierung und Einrichtung der Familie benötigt.

Ein gespendetes Notebook musste etwas umgestaltet werden.

Beschriften der Tastatur (lateinische Buchstaben) mit kyrillischen Buchstaben damit die Gastfamilie dieses Notebook nutzen kann.

Ein kleiner Eindruck der Wohnung für die Gastfamilie in Leichlingen.

Toll wie hier aus dem Nichts eine schöne Wohnung gestaltet wurde. Respekt an Doreen, Stefan und Familie.

Jetzt haben wir alle Unterlagen komplett und können Unterstützungsleistungen beim Jobcenter beantragen. Mit der Registrierung in Bergisch Gladbach kam auch die Arbeitserlaubnis. Jetzt geht’s an die Jobsuche.

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